Nur in etwas schlimmer


Es wäre genauso falsch, zu behaupten, dass wir das Tragische, den Tod, die Endlichkeit und so weiter wiederentdecken. Seit einem halben Jahrhundert schon kann man die von Philippe Ariès wunderbar beschriebene Tendenz beobachten, den Tod, so gut es geht, zu vertuschen: Nun, der Tod war nie so diskret wie in diesen vergangenen Wochen. Die Leute sterben allein in ihren Zimmern, in Krankenhäusern oder Altersheimen, man begräbt sie sofort (oder äschert man sie ein? Die Einäscherung entspricht mehr dem Zeitgeist), ohne irgendwen zu benachrichtigen, sang- und klanglos. Ohne den geringsten Zeugenbericht komprimieren sich die Opfer in der täglichen Totenstatistik zu einer Einheit, und die Angst, die sich mit den steigenden Zahlen in der Bevölkerung verbreitet, hat etwas seltsam Abstraktes an sich.

Eine andere Zahl, die in den letzen Wochen an Bedeutung gewonnen hat, ist das Alter der Kranken. Wann ist es angebracht, sie zu reanimieren und zu pflegen? Mit 70, 75, 80 Jahren? Das kommt offenbar darauf an, in welcher Region der Welt man lebt; zumindest hat man nie mit einer solchen Schamlosigkeit zum Ausdruck gebracht, dass nicht jedes Leben den gleichen Wert hat; dass es ab einem gewissen Alter (70, 75, 80 Jahre?) ein bischen so ist, als sei man schon tot.

All diese Tendenzen, ich sagte es bereits, haben vor dem Coronavirus existiert, sie haben sich nur mit einer neuen Gewissheit zu erkennnen gegeben. Wir werden nach dieser Ausgangssperre nicht in einer neuen Welt aufwachen. Es wird dieselbe sein, nur in etwas schlimmer.

Zitiert aus einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von Michel Houellebecq Die Zukunft nach Corona, Ausgabe 10. Mai 2020 Nr. 19